Moralphilosophie

Philosophie ist das Streben nach Wahrheit, aber ist sie nicht zugleich auch Streben nach Tugend, so kann die Wahrheit erbärmlich sein, weil wir Teil ihrer sind und sie also nicht nur zu erkennen haben, sondern auch gestalten, z.B. durch Politik.

Deshalb ist Philosophie entweder stets identisch mit Moralphilosophie (=Ethik) oder keine Philosophie, sondern kaum mehr als das Denken über den unserer Erkenntnis toten Teil in der Physik.
-MSR-

Sven Verfasst am: 15.10.2004 11:54    
Titel: Philosophie und Moralität

Antworten mit Zitat 


Herbert hat folgendes geschrieben::
Eine Theorie kann im strengen Sinn nicht verifiziert werden. Sie wird je nach Wortwahl erhärtet, bestätigt, bewährt. Jedes Wissen ist Vermutungswissen. (das ist übrigens ein Grund, warum die Theologen keinen Wissensanspruch erheben können: sie wollen nicht zugeben, daß ihre Aussagen nur Vermutungen sind)

Hallo Herbert,

Agnostizismus in "letzten Fragen" lasse ich Dir wie mir philosophisch noch durchgehen, aber von derlei nun auf jederlei zu schließen, ist vernunftlos.

Der Wahrheit kommt man nicht auf die Schliche, indem man sie von einem Punkt aus betrachtet, von dem man ohne Kenntnis ist. Weil Dir alles Wissen nur Vermutung ist, kriechen Dir die 100-m-Läufer ja tatsächlich rückwärts und darum taugt das Bsp. nicht zur Polemik und doch überhaupt auch nicht in Vertretung der Wissenschaft, was ich mir nun oft genug in diesem Forum anhörte.

Welche Wissenschaftler sollen das sein, die von ungewissen Punkten aus versuchen würden, zu falsifizieren? Denn das würde ihnen "theoretisch" immer "gelingen" und deshalb würde ich sie nur auf eigene Rechnung arbeiten lassen - "streng genommen".
Das Experiment bemüht hingegen möglichst gesicherte Größen.

Wissenschaft ist kein Vermutensgeschäft, zumindest soll es das nicht sein, sondern schafft "Wissen + Irrtümer = Wissensstände". Oft schaut sie nur und staunt. Und schon, wenn sie nur das Bestaunte beschreibt, schafft sie erstes Wissen.

Als wahr genügt und gilt(!), was 1. "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu vermuten ist", aber würde die Reserve zur permanenten Herrin über das Wissen, so bliebe die Wissenschaft Selbstzweck - und dieses auf die Moral angewendet, könnten wir alle Richter entlassen, denn der Zweifel entscheidet auf Unschuld und alle Mörder wären rehabilitiert.

Als wahr genügt und gilt(!), was 2. die Anschauung der Welt insgesamt anbetrifft, ist subjektiv = Glaube = sich anvertrauen = eigene Gewissheit.
Da kann es hapern, aber das scheidet nicht gleich vom Glauben. Auch die beste Ehe ist selten in allem perfekt und hält trotzdem. Relativisten haben in ihr kein Glück = in diesem Fall = Wahrheit und beruht auf Erfahrung, "bewährt" = worin "bewahrheiten" verwandt ist. Unterschätze das nicht durch Reduktion auf den Mangel.

Immer wieder machst Du die Ausnahme zur Regel. Das wird vielen Ausnahmen gerade recht sein: Goldene Regel, FDGO usw., kannst Dir zwar glücklicherweise alles noch schlimmer vorstellen, weshalb Du für die besseren Varianten einstehst, aber Du tust guten Regeln keinen Gefallen, wenn Du sie über die Regelverstöße falsifizierst - anstatt sie zu bewehren.

Nimm Dir bitte ein Streichholz und zünde es an. Meist wird es gelingen, obwohl unendlich viele Bedingungen erfüllt sein müssen. Aber "rein theoretisch" müsstest Du scheitern, weil Du es an der falschen Seite reibst, es unter fließendem Wasser versuchst usw. - stets im Bestreben, Dich von der Bewährtheit einer These dadurch zu überzeugen, dass Du ihre Falsifizierung probierst. Auch zehn Packungen werden nicht reichen.

Dir "bewährt" sich die Evolutionstheorie und der "Affe als Cousin", ich nehme mir noch gleich den Frosch als Cousine hinzu - und wir beide sollten darin einig sein, denn auch ich neige zur Evolutionstheorie, was uns die Ahnenreihe über die Affen hinaus noch deutlich verlängert und unsere Verwandtschaft erweitert.
Vielleicht ist meine Frau deshalb Vegetarierin und Du Kannibale?

Den Religiösen "bewährt" sich die Schöpfungsidee. Das erspart ihnen manchen Skrupel, andere Skrupel erwachsen daraus. Das ist die Wirkung aller Selbstverständnisse und Weltanschauungen.
Nur glücklicherweise und sinnvoll kann man in gemeinsam interessierenden Dingen gemeinsame Standards finden. Deren Aufkündigung lohnt aber nicht wegen der Paradigmenverschiedenheit.

Es ist das selbstgerechte Denken, das viele Atheisten und Religiöse in gefährliches Misstrauen gegeneinander treibt, jeweils der anderen Seite Mordmotive zu unterstellen, obwohl a) das 5.Gebot wie die §§211, 212 StGB lautet und b) in den eigenen Reihen genügend Mörder Geschichte schreiben. Deshalb ist die Allianz falsch geschmiedet, wenn sie sich atheistisch oder religiös gegeneinander formiert.

Warum habe ich so weitgehend "ideologischen Frieden" mit Noah und Martin, obwohl der eine religiös jüdisch ist und der andere verdächtig atheistisch? Weil uns die Differenzen in den letzten Fragen allenfalls interessieren, nicht aber trennen in vielen Fragen des praktischen Daseins, darin sogar notwendig ergänzen, denn wir haben gemeinsam das Problem, das weder ausschließlich atheistisch noch ausschließlich religiös bedingt wäre, sondern in der Natur des Menschen, hinreichend gemeinsame Standards zu entwickeln, verbindlich zu machen.

Die Ahnenreihe bis ins letzte Glied erscheint mir wenig regelungsbedürftig und schon erheblich kürzere Ahnenreihen stellten und stellen vor größte Probleme, wenn man ihnen politische Bedeutung beimisst, die sich gemeinsamer Moral vergisst.

Forschung und Lehre sind frei. Das war nicht immer so, aber heute. Lasst sie tun: Die einen in der Bibel, die anderen auf anderen Gebieten, viele in forschen in allem.
Wir beide finden vielleicht die Eltern von Mensch und Affen, ein Freud meiner Familie sucht seit 50 Jahren nebenher danach (Dr. Janicke) und war immer nett zu Mensch und Affen.

Glaubst Du das Bindeglied gefunden, so überzeugen die Teile nicht jeden und überdies erweist sich Theologie als biegsam, wie auf solchen Seiten zu allerlei Naturphänomen abzulesen ist, was sich sowohl Religiöse wie auch Atheisten vor 100 Jahren nicht einmal zu träumen gewagt hätten: "Das wusste Mohammed schon" und die nächste Entdeckung sei Jesus kein Geheimnis gewesen - nicht gerichtsfest, aber gerichtsfeste Glaubensgewissheit der Religiösen, es sei denn, man treibe Inquisition gegen Religiöse.

Interessiertheit, Amüsement lautet meine Empfehlung in Betrachtung der Andersgläubigkeit, aber sobald man das "vs." der eigenen Betrachtung voranstellt, leidet aus solcher Parteilichkeit auch die eigene Sachlichkeit, die notwendig Bescheidenheit gebietet.

Bescheidenheit wiederum soll man nicht gegen andere einklagen und mindestens dann nicht, wenn man sie selbst verfehlt. Anderenfalls müsste man ihr Gesetze machen, aber nicht doch in weltanschaulichen Erwartungen, denn das hieße, den Menschen im Ich töten zu wollen.
Es kann einzig erstrebenswert sein, dass sich die Überzeugungen im gesellschaftlichen Wirken auf eine für alle diskriminierungsfreie Weise bescheiden.

Ich also "weiß manches", was andere schon besser wissen und wieder andere anders. Ich schaue dem Hund in die Augen, ich sehe die Seele und andere sehen sie nicht. Solange muss ich den Tierschutz anders begründen und finde entweder den gemeinsamen Nenner oder lasse ihn mir entgehen.

Philosophie ist das Streben nach Wahrheit, aber ist sie nicht zugleich auch Streben nach Tugend, so kann die Wahrheit erbärmlich sein, weil wir Teil ihrer sind und sie also nicht nur zu erkennen haben, sondern auch gestalten, z.B. durch Politik.

Deshalb ist Philosophie entweder stets identisch mit Moralphilosophie oder keine Philosophie, sondern kaum mehr als das Denken über den unserer Erkenntnis toten Teil in der Physik. >> Panta rhei - Versuch einer Synthese

Grüße von Sven
Moralische Verantwortung
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