von Sven
            Redaktion am 29.Nov.2002 12:50  
             
            Hallo JS, 
             
            im Alter von etwa 15 war ich in der Normandie und Bretagne. 
             
            In den Dörfern standen Kriegsdenkmale. 1.Weltkrieg, 2.Weltkrieg. 
             
            Alle paar Meter waren an den Stränden "Zeugnisse deutscher
            Architektur": Beton, Bunker, oft tief und schräg in den
            sandigen Untergrund gesackt - der "Atlantik-Wall" 
             
            Die hässlichen Bauwerke stanken, wenn der Wind falsch stand, denn
            sie waren Aborte und Mülldeponie der freien Camper. 
             
            Nicht selten passierte, dass junge Franzosen uns Deutsche mit
            "Heil Hitler!" zu ärgern oder necken versuchten, was kaum
            daran gelegen haben könnte, dass wir unser Nachbarland mit einer
            Hakenkreuz-Fahne besucht hätten, denn uns war Antifaschismus eine
            Selbstverständlichkeit. Damals genügte für den Affront das
            deutsche Autokennzeichen (am weinroten Renault 16 :-) 
             
            Ähnliches konnte uns auch in den Niederlanden passieren, obwohl große
            Teile unserer Familie Holländer sind, denn wahrhaft "Große
            Familien" schnattern nicht nur über die Welt, sondern sind
            auch die Welt. Dann weiß man, dass kein Land für sich allein
            reicht, etwas zu sein, egal in welchen Grenzen. 
             
            Mich bekümmerten also solche Vorurteile nicht. Und sie verstummten
            sofort, wenn ich als Kind schon sagte, dass ICH kein Nazi bin und
            Feindschaft nicht mein Ding. 
             
            Klar, dass man sich dann schnell liebte. Und mit einer Pariser
            Blondine lag ich mir tagelang im Ohr: "Hallo Feind!" und
            ich konnte es auf französisch. 
             
            Im Alter von 20 begann ich mir die Orte anzusehen, an denen das
            geschehen war, worüber ich bis dahin mit "größter
            Selbstverständlichkeit" gesprochen hatte: "Damit habe ich
            nichts zu schaffen, außer dass es sich nicht wiederhole". ABER
            das war nur die (halbe) Wahrheit ohne Erfahrung. 
             
            Zweimal fuhr ich nach Auschwitz, ich besuchte Lidice, Warschau,
            KZ-Gedenkstätten in der Sowjetunion, in Lettland, sehr oft war ich
            mit Delegationen in Sachsenhausen. 
             
            Und was meinst Du, warum ich das erzähle? 
             
            Weil ich dort "SCHAM" verspürte. 
             
            "Arbeit macht frei" machten die Nazis zur Lüge, denn deren
            "Arbeit" machte tot. UND der Betrug stand überall in
            deutscher Sprache. Die Nazis hatten sich angemaßt, im Namen meiner
            Eltern zu sprechen, zu morden - für "1000 Jahre", 
            auch in meinem Namen, denn "deutsch" bin ich den anderen,
            weil als "Deutschen" sehen sie mich an. - 
             
            Man kann es zwar "klären", aber klären muss man es dann,
            ansonsten bleibt man es "schuldig" - und etwas schuldig
            bleiben macht die Scham. 
             
            Vor ein paar Jahren war ich auf einem Campingplatz in Prerow an der
            Ostsee. Ich unterhielt mich mit einem Schweden, als sich zwei Nazis
            mit "deutschen Gruß" auffällig machten. Es war mir
            "peinlich". Ich sagte zu meinem  schwedischen Gesprächspartner:
            "Einen Moment." Er versuchte mich tröstend zurückzuhalten:
            "Das gibt es doch auch bei uns auch." 
            Ich ging hin zu den beiden Gestalten. Sie versprachen, sich solcher
            Grüße zu enthalten. Und es war erledigt. 
             
            JS, begreife: Wann sich einer schämt, stolz ist, oder was einem
            peinlich ist und was nicht, das ist allein dessen Sache - und wenn
            es der größte Unfug ist. 
             
            Du musst endlich unterscheiden zwischen (natürlicher)
            "Empfindung" und (politischem) "Programm". 
             
            Dann begreifst Du erst wirklich, dass Nazis in wahrer Tiefe nicht
            empfinden, wovon sie lauthals grölen, denn Empfindungen hat man
            entweder oder nicht, aber zu fordern braucht man sie nicht. 
             
            Irgendwann wirst Du Dir der Verlegenheit bewusst sein, dass es in
            der Gesellschaft, ob mit oder ohne Grenzen, ob deutsch oder
            universell, immer Verhältnisse gibt, in denen Menschen einander
            rechtlich, kulturell, kaufmännisch, wissenschaftlich und auch
            politisch "vertreten". 
            Du wirst nicht immer allein darüber entscheiden, wer Dich vertritt
            und wie gut er das für Dich macht. Trotzdem haftest Du für vieles. 
            Bloße Opposition - und sei sie noch so scharf, ob mit Worten oder
            Bomben - voll egal - macht von der Haftung aus Vertretungsverhältnissen
            oft nicht frei. Weil häufig nur entscheidet, was auf dem Weg
            passiert ist und im Ergebnis. Ob Du nun dastehst wie ein Falke, eine
            Taube, mag für Dich wichtig sein und ist es gewiss, aber längst
            nicht alles, was Deine Haftung anbetrifft. 
             
            Wenn sich also Eichhörnchen hier "schämt" für das, was
            die Grünen mit den Roma machten, dann liegt das wohl daran, dass
            sie sich schlecht vertreten fühlt! und sich nicht einbildet, den
            Roma sei dadurch geholfen, dass sie erklärte, "nicht
            verantwortlich zu sein, weil es die Grünen machten". 
             
            Überprüfe Deine "Opposition", denn niemand kann sich aus
            der Welt und aus der Verantwortung stehlen. Das stimmt so objektiv
            wie und für die Bomben, die nicht "vom Himmel fallen",
            sondern aus Flugzeugen, also keine Meteoriten sind, so sehr sich die
            Ergebnisse gleichen können. Der Unterschied ergibt sich allein aus
            der Verantwortung. Ein Teil davon ist Schein.  Aus beidem ist
            "Politik". 
             
            Dein Politikverständnis (=notwendig "Weltanschauung" auch
            ohne Bekenntnis) unterscheidet sich so sehr von der Erfahrbarkeit
            wie der Krieg vom astronomischen Ereignis. 
             
            Trotzdem freue ich mich (meist), wenn Du schreibst. 
 
            
            Grüße von Sven 
            Redaktion                          
            DISKUSSION
             
              
             
            
  Krieg
            und Astronomie können dennoch gleiche Ergebnisse haben
          
          
          
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