DER SPIEGEL 39/2000  CAROLIN EMCKE, CHRISTOPH MESTMACHER

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Fortsetzung  "Benzin und Streichholz"

Bei den Altnazis

So albern der Kitschkult im Wald anmutete, so schwer war es gewesen, an eine Einladung zu kommen. Die Teilnahme an jener Sonnenwendfeier war für Mutter und Tochter Teil des Verbotenen, das sie gesucht hatten. Konspirativ wurde der Ort in der Szene gehandelt. Er war geheim für Außenstehende und somit wichtig.

Carla und Tina stellten zuvor ihre Zuverlässigkeit unter Beweis ­ bei Ursel und Curt Müller aus Mainz-Gonsenheim. Die beiden Altnazis führen neben ihrer Gärtnerei die größte legale Neonazi-Vereinigung, die Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V. mit über 500 Mitgliedern.

Die HNG betreut so genannte nationale Gefangene wie den skrupellosen Polizistenmörder Kay Diesner, den Brandstifter von Solingen, Christian Reher, oder den berüchtigten Hardcore-Skin Christian Hehl.

Der eingetragene Verein schickt den Inhaftierten direkt in die Zelle seine "Nachrichten der HNG". Das Blättchen bietet frische Informationen aus der Szene und gibt Mitgliedern Tipps für den korrekten Briefwechsel mit Gefangenen. Die Umsorgten bedanken sich artig ­ "Heil Dir, liebe Ursel" ­ mit ein paar Zeilen für die Leserbriefseiten.

Das Haus der Müllers gleicht einem Hitler-Museum. Der Führer hängt als Bleistiftzeichnung über der Küchentür, gleich drei Holzbüsten stehen im Regal. Horst Wessel, der Barde Adolf Hitlers, ziert den Klo-Eingang. Stolz verkündet Ursel Müller, diese Dinge seien schon lange ihr Eigentum.

Für Ideologie ist Curt zuständig. Seine Briefe schmückt er mit Stempeln wie "Politisch Verfolgter der Demokratie", "Neonazi. Betrachten wir das Wort als Ehre" oder "Das Dogma Auschwitz musst Du glauben, sonst legt man Dich in Daumenschrauben". Ursel, offizielle Chefin der HNG, übernimmt dagegen den mütterlichen Part. Weihnachten, so erzählt man sich, soll sie schon mal Plätzchen in Hakenkreuzform backen.

Bei den Müllers finden Tochter Tina und Mutter Carla, wonach sie ihr Leben lang gesucht hatten: eine Familie, ein Zuhause. Vertrauensvolle Beziehungen hatte Carla bis dahin selten erlebt. Bindungen bedeuteten für sie immer Lügen und Gewalt, manchmal sogar Tod.

Im Glauben, eine Halbwaise zu sein, wuchs sie nahe Mainz bei ihrer Mutter und einem ältlichen Universitätsprofessor auf. Bei einem Autounfall sei ihr Vater gestorben, erzählte die Mutter, eine Oberstudienrätin. Ihre ganze Kindheit hindurch erfuhr Carla nicht, dass jener greise und unzugängliche Professor ihr Vater ist.

Wie viele Kinder, die ohne Vater aufwachsen, wollte das Mädchen schon früh ihren Mann stehen, spielte Fußball und baute Baumhäuser. Carla begeisterte sich für alles, was sich als Fluchthelfer aus ihrem öden Leben anbot. Mit 16 experimentierte sie mit Drogen. Als ihre beste und einzige Freundin an einer Überdosis Heroin starb, suchte Carla Trost in einer Brieffreundschaft zu einem sechs Jahre älteren Mann in München. Dass er NPD-Funktionär war, störte die 18-Jährige nicht. Der Brieffreund bot das Ticket in die Freiheit.

1983 heiratete sie den Nationalisten und zog nach München. Dort, in der Wohnung des NPD-Mannes, stand sie später zum ersten Mal in ihrem Leben unter der Reichskriegsfahne.

Die große Freiheit war es nicht. Ihr Mann jobbte als Bote, Carla faltete in der NPD-Geschäftsstelle Flugblätter und verschickte die "Deutsche Stimme", Hauspostille der NPD. Die Miete bezahlte ihr Großvater. Die Parteiversammlungen ödeten sie an.

Zur Enttäuschung ihrer Freunde brachte Carla noch 1983 eine Tochter zur Welt ­ Tina. Dennoch gewann ihr Vater einen prominenten Taufpaten: Günter Deckert, inzwischen mehrfach verurteilter Holocaust-Leugner und früherer Chef der NPD.

Carlas Traum von der glücklichen Familie währte im deutschnationalen Milieu nicht lange. Der Ehemann verlangte Gehorsam, wurde handgreiflich und drohte schon mal dem Kind. Sie klammert sich an den Traum von der Familie, er bleibt immer öfter fort von zu Hause.

Carla bringt ein zweites Kind zur Welt, endlich einen Sohn. Doch als der Säugling den plötzlichen Kindstod stirbt, ist die Ehe endgültig zerrüttet. Die dritte Schwangerschaft, Folge einer Vergewaltigung in der Ehe, bricht Carla ab.

Sie lässt sich scheiden, tritt aus der NPD aus, kehrt mit ihrer Tochter Tina nach Mainz zu ihrer Mutter zurück und stürzt sich in ihr nächstes Abenteuer. Die eben noch folgsame Frau eines Deutschnationalen verliebt sich in einen GI, einen Hispano-Amerikaner. Gemeinsam wollen sie in die USA auswandern.

Doch Tochter Tina darf wegen des geteilten Sorgerechts nicht mit. Carla entscheidet sich, ohne Kind nach Amerika zu gehen. Sie verliert das Sorgerecht. Ihre Tochter muss wieder nach München ziehen, wo sie ihr Vater bald darauf in ein Heim steckt.

Vorerst genießt Carla das Leben inmitten der GIs. Sie lebt in Wohnwagenparks, robbt bei Überlebenskursen durch den Schlamm und tobt sich aus. Doch die Sehnsucht nach der Tochter wird stärker. Sie will zurück.

1993 quittiert ihr neuer Ehemann den Dienst in der US-Army und folgt Carla nach Deutschland. Die nächste Katastrophe bahnt sich an. Zwar kann sie endlich ihre Tochter besuchen, aber der Gatte hängt an der Wasserpfeife, versackt, bis Carla ihn 1995 aus der gemeinsamen Wohnung wirft. Fortan kämpft sie um das Sorgerecht für ihre Tochter.

Tina hat unterdessen eine neunjährige Heimkarriere hinter sich. Ein Aufenthalt bei Pflegeeltern scheitert an der Tablettensucht der Ersatzmutter, die auch Carlas Briefe aus der Neuen Welt abgefangen hat. Wieder landet sie im Heim. Ihr Vater besucht sie selten.

Carla erhält 1997 das Sorgerecht zurück. Mutter und Tochter gewöhnen sich schnell wieder aneinander. Die Mittdreißigerin und der Teenager geben sich jene Geborgenheit, die beide vermisst haben.

Das Leben gewinnt an Ordnung. Tina geht auf die Realschule, Carla arbeitet bei Edeka, gibt in der Nachbarschaft Nachhilfe in Englisch und putzt bei ihrer Mutter.

Doch wieder droht die Langeweile. Als müssten sie ihre Jugend nachholen, suchen Mutter und Tochter das Abenteuer, das Schräge, das Ausgeflippte. Sie hängen in Mainz mit US-Soldaten herum. Dass Farbige darunter sind, stört sie nicht.

Sie probieren verwegene Rollen aus und rasieren sich die Schädel ­ so wie Demi Moore. Die Hollywood-Schauspielerin mimt im Film "Die Akte Jane" einen weiblichen GI, der sich in der Machowelt der US-Armee behauptet. Ab sofort ziehen sie im gefleckten Kampfdress der Army durch die Gegend und züchten sich Muskeln an.

Doch die Rollenspiele enden so abrupt, wie sie begonnen haben. Kleinste Begebenheiten ändern ihre Haltungen radikal. Nach einem missglückten Flirt mit einem schwarzen Soldaten entdecken Mutter und Tochter ihre Abneigung gegenüber allem Nichtdeutschen.

Fernsehdokumentationen über Hitlers Wehrmacht wirken wie eine Einstiegsdroge. Im Frühjahr 1999 erinnert sich Carla an ihre Zeit in der NPD-Zentrale in München. Sie lesen die Hauspostille des rechtsextremen Verlegers und DVU-Chefs Gerhard Frey, die "National-Zeitung". Die Soldatenporträts finden sie spannend.

Plötzlich fallen ihnen Zeitungsberichte über kriminelle Ausländer auf. Berichte aus der geheimnisvollen Welt der Neonazis finden sie so aufregend, dass Mutter und Tochter Kontakt in die rechtsextreme Szene suchen.

Am 20. April 1999, Führers Geburtstag, fahren sie nach Mainz-Gonsenheim. In der Gegend ist Carla aufgewachsen. Und jeder Einheimische weiß, dass hier die Müllers wohnen. Von denen heißt es, sie begrüßten und verabschiedeten gleichgesinnte Gäste zackig mit erhobenem rechtem Arm, was Ursel Müller bestreitet.

An diesem Donnerstag stehen sie vor einem mächtigen Stahltor, bewehrt mit einer grünen Sichtblende und Stacheldraht auf der Mauer. Gelegentlich schießt Ursel Müller mit einem Eimer Wasser aus der Burg und verscheucht die "Systempresse". Ein kleiner Schaukasten mit dem Bild des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß signalisiert den beiden Besucherinnen, dass sie richtig sind. Zwar bleibt das Tor verschlossen, aber ein Winken aus dem Festungsfenster macht Mutter und Tochter Hoffnung.

Sie schreiben Briefe ­ und Müllers antworten tatsächlich. Das Tor sei vormittags für ein paar Stunden geöffnet, sie könnten ja mal vorbeischauen. Zwischen Mutter und Tochter entbrennt vor dem zweiten Besuch ein heftiger Streit. Wer darf das T-Shirt mit dem Aufdruck "Ein Herz für Deutschland" tragen? Tina gewinnt.

Wenig später stehen sie im Müllerschen Gärtnereibetrieb. Die HNG-Chefin bindet Blumen, gibt sich herzlich und vermittelt den beiden das Gefühl, sie prüfe die Gesinnung der Neuzugänge. Die Frauen bestehen die ersten Tests. Auch als Ursel Müller mit Schändungen jüdischer Friedhöfe prahlt, zeigen Mutter und Tochter keine Abscheu.

Ursel Müller, im Mai 1999 wegen Aufstachelung zum Rassenhass auf Bewährung verurteilt, nennt dagegen die Erinnerungen der Frauen "Märchen". Zu Friedhofsschändungen aufzurufen "würde mir nie in den Sinn kommen", lässt sie den SPIEGEL wissen.

Die ebenso kalte wie herzliche Alte wird schnell zu einer Art Ersatzmutter. Carla hilft ihr beim Putzen. Sie fühlt sich ernst genommen, fühlt sich wichtig, wertvoll, akzeptiert.

Die Frauen haben den Eindruck, dass Ursel Müller spürt, sie wollen mehr als Ideologie und Herzlichkeit. Nach gut drei Monaten ruft Ursels Bekannter Wilhelm Herbi an und lädt zur Sonnenwendfeier, auf der "im Schweiße des Angesichts geschuftet wird", bevor das Feuer brennt.

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