"Zug des Lebens" 

Wertung
 bester Film April 2000


So bitter sein Thema, so schön ist dieser Film.  Es ist einer der schönsten Filme überhaupt.  

Das Märchen erzählt, wie sich eine jüdisch-orthodoxe Dorfgemeinde in Osteuropa, 1941, dadurch vor der Deportation rettet, dass sie sich selbst deportiert.  

Innerhalb der ersten 3 Minuten sind wir entführt in diese andere Welt, die unwiderstehlich eigenlogisch ist und erlebbar macht, was Kultur ist: 
nicht nur die Summe ihrer Teile,  der Sprache und Tradition, sondern jedes durch alles geprägt und verstärkt.  Dennoch verstehen wir sofort und trotz der bewussten Distanz: Jeder würde es auch so machen :-) und die fremde Kultur wird zum Spiel, in dem unsere neue Erfahrung sofort zur Erwartung wird, zum Ratespiel, ob die Erwartung schon stimmt.  Alle  Unterschiedlichkeit der Formgebung für das menschliche Wesen wird spürbar als eigene und gemeinsame Universalität des Seins.

Und doch ist diese unverhoffte Selbsterfahrung nur ein Aspekt des Films, der mit die Komplett-Identifikation mit dem einzelnen Charakter vermeidet, dem Individuum die Einzigartigkeit belässt und bei aller Anteilnahme genügend Distanz zur Beobachtung und Urteilsfähigkeit erhält. Im Wechsel  von Mikroskopismus und dem kulturellen und historischen Fernblick auf das fiktive Geschehen dieser Tage wird der Widerspruch dessen deutlich, was sich die Menschen politisch zumuteten und erneut zumuten könnten, denn die Passierte wird nicht entfremdet. 

Und das macht dieser Film auf die angenehmste Art, die möglich ist:  durch Komödie.  Der Holocaust als Komödie - und dennoch möglich, wie wir spätestens seit dem Mega-Erfolgsfilm "Das Leben ist schön" wissen, weil der Mensch einerseits nicht so dumm ist, dass er sich das ungezeigte Leiden überhaupt nicht vorstellen würde, weil der Mensch andererseits auch das  gezeigte Leid nicht vollends begreifen könnte, denn die Kluft zwischen  Wissens um Tragödie und Erleben von Tragödie ist zu groß, um sie zu überbrücken und die darin liegende Überforderung stumpft durch zu häufige Wiederholung ab und schädigt eher unser emotionales Verständnis.  

Regisseur Radu Mihaileanu, ein in Frankreich lebender rumänischer Jude, wollte die Shoah nicht nochmals "einzig in den Kategorien von Schrecken und Tränen erzählen".  -  Das ist ihm PERFEKT gelungen. 

Dieser Film lässt lachen: Situationskomik, Ironie des Schicksals, Selbstironie. Der "gute Ausgang" des Films ist nicht Kitsch, sondern durch die Fiktion erlaubt - der einzige und durchgesetzte Wille von Filmpersonen und Publikum, kommt einem irgendwie demokratisch vor.  Jeder im Kino wollte das so. 

Schauspielerisch ist der Film ebenfalls "ganz groß". Die Charaktere mutieren in nachvollziehbarer Größe und parodieren sich darin. Dass die "großen Namen" fehlen, tut dem Film überhaupt keinen Abbruch, aber ist dennoch schade, weil ohne wenigstens einen Superstar das Massenpublikum nicht erreicht werden kann.  

Im unmittelbaren Vergleich mit dem Oscar-Film "Das Leben ist schön" würde ich diesen Film vorziehen, denn er bietet mit Ausnahme des Superstars eigentlich all das, was "Das Leben ist schön" zum Erfolg macht - und doch auch mehr, denn der Blick in die ultra-orthodoxe Judenszene lohnt, was nicht heißen soll, dass man sich ihr anschließen müsste, aber vielleicht versteht man das ein und andere ein bisschen besser, was ansonsten so schwer einsichtbar ist. 

Anschauen!  Gemeinsam oder allein - man wird es nicht bereuen.

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Regie:  Radu Mihaileanu;  Filmographie: 1995 Trahir; Buch: Radu Mihaileanu,
Jahr: 1998,  Land: Frankreich, Darsteller: Lionel Abelanski, Rufus Clément, Harari, Michel Muller, Bruno Abraham Kremer, Agathe de la Fontaine, Kamera: Yorgos Arvanitis, Laurent Dailland; Musik: Goran Bregivic, Länge: 103 Minuten. 

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MSR 31.03.2000   Onlinewoche    www.kulturwoche.de    Spielfilmwoche    Allessuche   

 

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