Polykratie  
 
von martin am 11.Jul.2002 01:42

Hallo Timo,

ich erlaube mir mal, an Svens Stelle zu antworten, weil mir dein Posting mehr auf meinen Beitrag gemünzt zu sein scheint.

Ich vermute, in der grundsätzlichen Bewertung des NS sind wir einer Meinung (was hier ja keine Selbstverständlichkeit ist).
Trotzdem möchte auf einige Punkte eingehen:

1. Die Geschichte "nicht Hitler-zentriert" zu sehen bedeutet mitnichten, sie "nicht reell" zu sehen. (Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich "reell"?) Die Kritik an der Zentrierung Hitlers bezieht sich nicht auf seine (doch recht offensichtliche) Zentralstellung im Herrschaftssystem, sondern auf die Zentralstellung im erkenntnistheoretischen Modell, mit dessen Hilfe Geschichte interpretierbar wird. Beide Ebenen sind weder identisch, noch kann letztere aus ersterer einfach abgeleitet werden.

2. Auch wenn kaum bestreitbar ist, daß die Geschichte aller Wahrscheinlichkeit nach anders verlaufen wäre, wenn es Hitler nicht gegeben hätte, ist der Umkehrschluß, daß Geschichte im alleinigen Rekurs auf ihn als willensmäßigen Initiator verstehbar wird, noch lange nicht gerechtfertigt. Die konsequente Umsetzung eines hitlerzentrierten Ansatzes wäre ein starker Intentionalismus, der den NS monokausal als Ins-Werk-Setzung der Ideologie eines Einzelnen versteht, der sich in einer absolut singulären Machtposition befindet. Das ist eine sehr starke These.

3. Ein nicht hitlerzentrierter Ansatz würde dagegen andere Faktoren für die Entwicklung von Geschichte einbeziehen (Gesellschaft, unabhängige Machteliten, strukturelle Eigenschaften des Herrschaftsapparates, Polyzentrismus der Macht, intellektuelle Traditionen etc.etc.), die zentrale Frage nach Entstehung und Funktion des Systems wesentlich differenzieren und ganz neue Gesichtspunkte und Interpretationshorizonte zu Tage fördern.

4. Die Geschichte von 1933-1945 läßt sich zwar nicht ohne die Existenz Hitlers erklären und verstehen, aber eben auch nicht im ausschließlichen Rekurs auf ihn. Und viele Aspekte gewinnen erst an Schärfe, wenn man Hitler aus dem Erklärungsmodell ausblendet.

Mfg
Martin


Welches Zentrum sonst? ]
 
von Timo Papenberg am 9.Jul.2002 19:53

Natürlich agierte Hitler nicht im luftleeren Raum. Aber III.Reich, die gesamte Geschichte von 1933-1945 lässt sich nur durch Hitlers Existenz erklären und verstehen. Wenn du mir Hitlerzentrismus vorwirfst, muss ich dir sagen: Du hast absolut recht. Zwar:
Natürlich gab es auch vor 33 Tendenzen, die in die nachher eingeschlagene Richtung weisen. Natürlich hat Hitler keinen der 50 Millionen Toten selbst umgebracht.
Natürlich waren die Mörderbanden willfährige Helfer, die Ihre Verbrechen in grosser Zahl auch ohne direkten Befehl ausführten.
Natürlich hätte es irgendeine Ausprägung des Faschismus in Deutschland auch ohne ihn gegeben.
Eventuell hätte es auch ohne ihn den Weltkrieg gegeben.

Aber: Die Geschichte, wie sie tatsächlich verlaufen ist, wäre ohne die Person Hitler in komplett anderen Bahnen verlaufen, und deshalb ist die Betrachtung Adolf Hitler als Mittelpunkt des nationalsoz. Verbrechertums unabdingbar. Hitler war nun einmal die zentrale Figur des deutschen Faschismus, vielleicht ging manches auch ohne ihn, aber es ging unter Garantie nichts GEGEN ihn. Die Geschichte nicht Hitler-zentriertzu sehen, bedeutet sich nicht reell zu sehen.

Die Person Hitlers entlastet natürlch keinen der schuldig gewordenen Mörder, und jeder hat seinen Anteil an Schuld selber zu tragen, das steht ausser Frage. Aber wenn ich das will muss ich mit dem Anteil an zuweisbarer Schuld auch verantwortlich umgehen.

 

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