Marzabotto 

Rede von Bundesaußenminister Fischer anlässlich 
des 59. Jahrestages des Massakers in Marzabotto am 05.10.2003

Vor 59 Jahren ermordeten deutsche Soldaten eines SS-Bataillons
in den Weilern von Marzabotto fast 800 Menschen. Wahllos und ohne
Gnade wurden Männer, Frauen und Kinder erschossen – ganz
gleich ob sie zu hause waren, bei der Feldarbeit oder beim
Kirchbesuch. Noch immer stehen wir fassungslos vor der
kaltblütigen Grausamkeit dieses Massenmordes. Noch immer sind
wir erschüttert über diese entsetzliche Tat.

Noch immer – fast sechs Jahrzehnte später – trauern
wir um die unschuldigen Opfer, gemeinsam mit ihren Angehörigen
und dem ganzen italienischen Volk.

Der Name Marzabotto steht für das schrecklichste deutsche
Verbrechen im zweiten Weltkrieg auf italienischem Boden. Die
Erinnerung daran und die historische Verantwortung für dieses
Verbrechen schmerzen und beschämen uns auch heute noch. Wir
dürfen die Ermordeten von Marzabotto nicht vergessen. Sie sollen
uns Mahnung sein und Warnung vor den Abgründen des Krieges. Sie
sollen uns erinnern an die Verheerungen von Nationalismus und
Rassismus. Und das Vermächtnis der Toten von Marzabotto soll uns
dem Frieden, der Toleranz und dem Geist des gemeinsamen Europa
verpflichten.

Heute ist Marzabotto ein Modell für Vertrauen und
Verständigung zwischen Völkern, das weit über Deutschland und
Italien hinausweist. Ich bin besonders beeindruckt von der
Initiative der "Campi a quattro voci", die hier
italienische, deutsche, israelische und palästinensische
Jugendliche zusammenführt, um gegenseitiges Verständnis,
Verbindungen und Dialog herzustellen. Den vielen engagierten
Politikern und Freiwilligen, die diese Gedenkstätte und die
Friedensschule "Monte Sole" gegründet haben, gilt
unser Dank. Sie haben einen Ort der Versöhnung geschaffen.

Friede und Versöhnung durch Demokratie und Zusammenarbeit
– das ist die Antwort Europas auf die Katastrophen in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um den Nationalismus und
Rassismus auf unserem Kontinent zu überwinden wurde 1957 in Rom
der Grundstein des Europäischen Zusammenschlusses gelegt. Das,
was als Zusammenschluss von sechs Ländern begann, hat sich als
historischer Erfolg sondergleichen erwiesen: In weniger als einem
Jahr wird die Europäische Union 25 Länder umfassen. Und gerade
gestern wurde in Rom ein weiteres Kapitel europäischen
Zusammenwachsens aufgeschlagen: Ich komme unmittelbar von der
Eröffnung der Regierungskonferenz über eine europäische
Verfassung. Wenn es uns in den kommenden Monaten gelingt, diese
Verfassung zu verabschieden, werden wir die politische Einheit
vollenden können.

Orte des Gedenkens wie Marzabotto sind für diese Entwicklung
wichtig. Denn sie zeigen uns, dass das, was heute so
selbstverständlich scheint, noch vor wenigen Jahrzehnten
keineswegs so war. Und dass die Folgen menschenverachtender
Ideologie und Gewaltherrschaft fürchterlich und verheerend sind.
Und diese Botschaft hat von ihrer Aktualität nichts eingebüßt.
Die furchtbaren Kriege und Massaker auf dem Balkan, unserer
unmittelbaren Nachbarregion, haben uns dies erst in jüngster
Zeit wieder vor Augen geführt.

Deswegen ist ihre Arbeit hier in Marzabotto für die
europäische Zukunft von großer Bedeutung. Hier können die
Menschen von Europa überzeugt und für Europa gewonnen werden.
Für diesen wichtigen Beitrag für unsere gemeinsamen Werte, für
Verständigung und Kooperation bin ich Ihnen aus tiefem Herzen
dankbar.

Vor den Opfern von Marzabotto verneige ich mich in tiefer
Trauer.



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