Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem heute verkündeten
Urteil entschieden, dass die bei der Europawahl 2009 (7. Wahlperiode) geltende
Fünf-Prozent-Sperrklausel unter den gegenwärtigen Verhältnissen gegen die
Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen
Parteien verstößt, und daher die der Sperrklausel zugrunde liegende
Vorschrift des § 2 Abs. 7 Europawahlgesetz (EuWG) für nichtig erklärt.
Demgegenüber hat der Senat die von einem Beschwerdeführer gerügte Verhältniswahl
auf der Grundlage „starrer“ Listen nicht beanstandet.
Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel führt jedoch nicht
dazu, die Wahl zum Europäischen Parlament des Jahres 2009 für ungültig zu
erklären und eine Neuwahl anzuordnen.
Über den Sachverhalt, der den drei Wahlprüfungsbeschwerden zugrunde liegt,
informiert die Pressemitteilung Nr. 23/2011 vom 29. März 2011. Sie kann auf
der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden.
Die Entscheidung ist mit 5:3 Stimmen ergangen. Die Richter Di Fabio und
Mellinghoff haben ein Sondervotum abgegeben.
Das Urteil beruht im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen:
1. Das Europawahlgesetz ist als deutsches Bundesrecht an den im Grundgesetz
verankerten Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der
politischen Parteien zu messen. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl gebietet
bei der Verhältniswahl, die auch für die Wahl der Abgeordneten des Europäischen
Parlaments gilt, dass - über die Zählwertgleichheit hinaus - jeder Wähler
mit seiner Stimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden
Vertretung haben muss. Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien
verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im
gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze
eingeräumt werden.
Die Fünf-Prozent-Sperrklausel bewirkt eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen
hinsichtlich ihres Erfolgswerts, weil diejenigen Wählerstimmen, die für
Parteien abgegeben worden sind, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne
Erfolg bleiben. Zugleich wird durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel der
Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt.
Differenzierende Regelungen bei der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit
der Parteien bedürfen stets eines besonderen, sachlich legitimierten,
„zwingenden“ Grundes. Sie müssen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und
erforderlich sein.
Der Gesetzgeber hat eine die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit berührende
Regelung des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn
die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch neue Entwicklungen
in Frage gestellt wird.
Für Differenzierungen verbleibt dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener
Spielraum. Die Ausgestaltung des Europawahlrechts unterliegt einer strikten
verfassungsgerichtlichen Kontrolle, weil die Gefahr besteht, dass der deutsche
Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten die Wahl eigener Parteien
auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten
Ausschluss kleinerer Parteien absichern könnte. Die allgemeine und abstrakte
Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug
kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane
erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, kann
den Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der
Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Zur Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel
bedarf es vielmehr der mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Beeinträchtigung
der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane.
2. Nach diesen Maßstäben durfte die Fünf-Prozent-Sperrklausel nicht
beibehalten werden. Die bei der Europawahl 2009 gegebenen und fortbestehenden
tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bieten keine hinreichenden Gründe,
die den mit der Sperrklausel verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die
Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen
Parteien rechtfertigen.
Die Einschätzung des Gesetzgebers, dass das Europäische Parlament mit dem
Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt
werde, kann sich nicht auf ausreichende tatsächliche Grundlagen stützen und
trägt den spezifischen Arbeitsbedingungen des Europäischen Parlaments sowie
seiner Aufgabenstellung nicht angemessen Rechnung. Zwar ist zu erwarten, dass
ohne Sperrklausel in Deutschland - sowie unter Berücksichtigung einer möglichen
Beseitigung von Zugangsbeschränkungen in anderen Mitgliedstaaten - die Zahl
der nur mit einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament
vertretenen Parteien zunimmt und es sich dabei auch nicht um eine zu vernachlässigende
Größenordnung handelt. Ohne Sperrklausel in Deutschland wären statt aktuell
162 dann 169 Parteien im Europäischen Parlament vertreten. Es ist jedoch
nicht erkennbar, dass dadurch die Funktionsfähigkeit des Europäischen
Parlaments mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt würde.
Zentrale Arbeitseinheiten des Europäischen Parlaments sind die Fraktionen,
die über eine erhebliche Integrationskraft verfügen und es über die Jahre
hinweg vermocht haben, namentlich die im Zuge der Erweiterungen der Europäischen
Union hinzutretenden Parteien trotz der großen Bandbreite der verschiedenen
politischen Strömungen zu integrieren. Nach diesen Erfahrungen ist jedenfalls
grundsätzlich davon auszugehen, dass auch weitere Kleinparteien, die beim
Fortfall der Sperrklauseln im Europäischen Parlament vertreten wären, sich
den bestehenden Fraktionen anschließen können.
Gleiches gilt für die Fähigkeit der Fraktionen, durch Absprachen in
angemessener Zeit zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Die „etablierten“
Fraktionen im Europäischen Parlament haben sich in der parlamentarischen
Praxis kooperationsbereit gezeigt und sind in der Lage, die erforderlichen
Abstimmungsmehrheiten zu organisieren. Es ist nicht ersichtlich, dass bei
Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel mit Abgeordneten kleiner Parteien in
einer Größenordnung zu rechnen wäre, die es den vorhandenen politischen
Gruppierungen im Europäischen Parlament unmöglich machen würde, in einem
geordneten parlamentarischen Prozess zu Entscheidungen zu kommen. Schließlich
zeigt die Entwicklung des Europäischen Parlaments, dass entsprechende
Anpassungen der parlamentarischen Arbeit an veränderte Gegebenheiten wie etwa
eine Zunahme der Zahl fraktionsloser Abgeordneter zu erwarten sind.
Zwar ist von den in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachkundigen und
Abgeordneten des Europäischen Parlaments übereinstimmend die Erwartung geäußert
worden, dass mit dem Einzug weiterer Kleinparteien in das Europäische
Parlament die Mehrheitsgewinnung erschwert werde. Damit allein ist jedoch noch
keine hinreichend wahrscheinlich zu erwartende Beeinträchtigung der
Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments dargelegt.
Des Weiteren sind die Aufgaben des Europäischen Parlaments durch die europäischen
Verträge so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und
Chancengleichheit einzugreifen, fehlt. Eine - bei der Wahl zum Deutschen
Bundestag - vergleichbare Interessenlage besteht auf europäischer Ebene nach
den europäischen Verträgen nicht. Das Europäische Parlament wählt keine
Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre.
Ebenso wenig ist die Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden
Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen
Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde.
Zudem ist die unionale Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass
sie nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament
abhängig ist.
3. Die gegen die Wahl nach „starren“ Listen erhobene Rüge greift dagegen
nicht durch. Nach dem Unionsrecht bleibt es den Mitgliedstaaten vorbehalten,
sich entweder für eine Wahl mit gebundenen - durch den Wähler nicht veränderbaren
- Listen oder für offene - die Möglichkeit der Veränderung der Reihenfolge
der Wahlbewerber auf den Wahlvorschlägen gewährende - Listen zu entscheiden.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits für nationale Wahlen wiederholt
festgestellt, dass die Wahl nach „starren“ Listen verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden ist. Neue Argumente, die für die Europawahl Anlass zu
einer anderen Beurteilung geben könnten, sind nicht vorgetragen worden.
4. Die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Sperrklausel hat die
Nichtigerklärung der sie regelnden Bestimmung des § 2 Abs. 7 EuWG zur Folge.
Der Wahlfehler führt jedoch nicht dazu, die Wahl zum Europäischen Parlament
des Jahres 2009 in Deutschland für ungültig zu erklären und eine erneute
Wahl anzuordnen. Denn im Rahmen der gebotenen Abwägung ist dem Bestandsschutz
der im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des Europawahlgesetzes
zusammengesetzten Volksvertretung Vorrang gegenüber der Durchsetzung des
festgestellten Wahlfehlers einzuräumen. Eine Neuwahl in Deutschland wirkte
sich störend und mit nicht abschätzbaren Folgen auf die laufende Arbeit des
Europäischen Parlaments aus, insbesondere auf die Zusammenarbeit der
Abgeordneten in den Fraktionen und Ausschüssen. Demgegenüber ist der
Wahlfehler nicht als „unerträglich“ anzusehen. Er betrifft nur einen
geringen Anteil der Abgeordneten des deutschen Kontingents und stellt die
Legitimation der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments in ihrer
Gesamtheit nicht in Frage.
Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff:
Die Richter Di Fabio und Mellinghoff tragen die Entscheidung in Ergebnis und
Begründung nicht mit. Sie sind der Auffassung, dass die Senatsmehrheit durch
eine zu formelhafte Anlegung der Prüfungsmaßstäbe den Eingriff in die
Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit politischer Parteien nicht überzeugend
gewichte. Der Senat ziehe den Gestaltungsspielraum des Wahlgesetzgebers zu eng
und nehme eine mögliche Funktionsbeeinträchtigung des Europaparlaments trotz
dessen gewachsener politischer Verantwortung in Kauf.
Die Fünf-Prozent-Sperrklausel sei keine bereits dem Grunde nach verbotene
Differenzierung. Sie stelle vielmehr eine ergänzende Regelung zum Verhältniswahlrecht
dar. Das Verhältniswahlsystem mit der Annexbedingung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel
sei aus Sicht der Erfolgswertgleichheit weitaus weniger einschneidend als ein
- vom Grundgesetz ebenfalls erlaubtes - einstufiges Mehrheitswahlsystem,
welches dazu führen könne, dass sogar mehr als 50% der im Wahlkreis
abgegebenen Stimmen ohne jede Mandatswirkung blieben. Die Wahlgrundsätze aus
Art. 38 GG nötigten nicht zur Ausgestaltung eines reinen Wahlsystems, sondern
ließen Modifikationen und Mischungen zu. Die verfassungsgerichtliche Prüfung
dürfe kein einzelnes Element eines Wahlsystems herausgreifen und daran
strenge Gleichheitsanforderungen
richten. Wahlrechtsfragen seien der politischen Gestaltung des Gesetzgebers
unterworfen, dessen Regelungsauftrag angesichts der Allgemeinheit der
Wahlgrundsätze dem Bundesverfassungsgericht Zurückhaltung auferlege.
Die Fünf-Prozent-Sperrklausel sei sachlich gerechtfertigt, um für das
deutsche Kontingent eine zu weitgehende Zersplitterung der im Europaparlament
vertretenen politischen Parteien zu verhindern. Dabei trage Deutschland
zusammen mit den anderen Mitgliedstaaten insgesamt Verantwortung für die
Funktionsfähigkeit des Europaparlaments. Gerade die Staaten mit größeren
Mandatskontingenten leisteten in ihrem Gestaltungsrahmen durchaus Beiträge
gegen eine weitere Zergliederung des Europaparlaments. Neben Sperrklauseln
enthielten die Wahlsysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch
wahltechnische Ausgestaltungen, die ohnehin zu Differenzen in der
Erfolgswertgleichheit führten. Mit der isolierten Aufhebung der deutschen Fünf-Prozent-Sperrklausel
durch den Senat werde daher im europäischen Umfeld ein Sonderweg beschritten.
Der Differenzierungsgrund der Funktionsbeeinträchtigung des Parlaments werde
durch den Senat letztlich auf eine Funktionsunfähigkeit begrenzt, ohne dass
die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hierfür eine Grundlage
biete. Ein sachlicher Grund für die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel
bestehe bereits in der Verringerung möglicher Funktionsbeeinträchtigungen
des Europaparlaments und liege nicht erst dann vor, wenn dessen künftige
Handlungsunfähigkeit zu erwarten sei.
Der Umstand, dass es dem Europaparlament bisher - unter Bedingungen großer
Heterogenität - gelungen sei, eine mehrheitsfähige Willensbildung herbeizuführen,
könne kein Argument dafür sein, dass die Verhinderung einer zusätzlichen
parlamentarischen Zergliederung die Sperrklausel nicht rechtfertigen könne.
Jede weitere politische Fragmentierung erhöhe den zeitlichen und personellen
Aufwand, Konsens herbeizuführen und verkleinere größere politische
Richtungen mit Wiedererkennungswert für die Wähler. Dem Gesetzgeber müsse,
gerade vor dem Hintergrund, dass sich das Europaparlament nach Inkrafttreten
des Vertrages von Lissabon in einer neuen Phase seiner Entwicklung befinde,
ein Spielraum für die Beurteilung von Funktionsrisiken zugebilligt werden.
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 70/2011 vom 9. November 2011
Urteil vom 9. November 2011
2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10