Die im November von
der ARD ausgestrahlte Doku "Jesus' junge Garde" hat einige Wellen
geschlagen. Gezeigt wurde darin das Wirken des deutschen Ablegers der
amerikanischen evangelikalen Erweckungsbewegung "The Call", die sich
auch hierzulande eines wachsenden Zulaufs erfreut. Vor allem unter Jugendlichen
scheint ein religiöser und moralischer Rigorismus fundamentalistischer Prägung
zunehmend an Attraktivität zu gewinnen.
Die Inhalte sind bekannt, denn spätestens seit sie durch die Nähe des
amerikanischen Präsidenten zu evangelikalen Kreisen auch eine politische
Relevanz erhalten haben, werden sie verstärkt in der Öffentlichkeit
wahrgenommen: Biblizismus und wörtliche Schriftauslegung, Suche nach
unmittelbarer Gotteserfahrung, Ablehnung von Homosexualität und Abtreibung,
Orientierung an rigiden moralischen Vorschriften usw.
Die Rolle George Bushs für solche Bewegungen kann man vermutlich kaum überschätzen,
er fungiert als Vorbild, wird als politischer Führer und gesellschaftlicher
Erneuerer oder gar Gottgesandter verehrt. Im Windschatten seiner Präsidentschaft
ist die religiöse Rechte zur einflussreichen politischen Kraft geworden. Die
Konzepte der Evangelikalen, gezielte Lobbyarbeit, öffentlichkeitswirksame
Protestveranstaltungen und generell der Wille, auf der Grundlage religiöser
Inspiration offensiv in die Politik hineinzuwirken, werden von deutschen
Ablegern entsprechender Organisationen fasziniert beobachtet und zunehmend
adaptiert.
Eine der abstrusesten Szenen der Doku waren die Statements von Lou Engle, dem
amerikanischen geistigen Führer von "The Call", den die Frankfurter
Rundschau einen "heiseren Krakeeler im Stil ekstatischer Schwarzenprediger"
nannte, einem Verehrer Adolf Hitlers, der, angesprochen auf Deutschland, zu
Protokoll gab, die Glocken im Glockenturm des Olympiastadions hätten einst die
Jugend der Welt herbeigerufen und mögen dies auch in Zukunft wieder tun. Seine
Vision sind deutsche "Krieger" im Dienste religiöser Erweckung.
Ein Wirrkopf wie Lou Engle macht es einem leicht, die Ideenwelt evangelikaler
Bewegungen mit ihrer bellizistischen Metaphorik ins Reich der Hirngespinste zu
verweisen. Und doch wird hier eine tiefe Verwandtschaft zwischen religiösem und
politischem Extremismus offenbar. Beider credo heißt Erweckung, Dezisionismus
und Mobilmachung. Religion ist nicht länger Privatangelegenheit, sie wird zum
Politikum, zum Feld von Bekenntnis und Aktivismus. Die Mächte des Bösen
scheinen im hier und jetzt wirksam, die Wirklichkeit der Welt wird zum
Schauplatz einer nicht mehr nur transzendenten Apokalypse. Die Metaphern haben
Gestalt angenommen und verlangen eine Entscheidung, die nicht etwas Peripheres
betrifft, sondern Identifikation und Prägung von Lebenspraxis in Totalität.
Evangelisation wird zentral: Übergib dein Leben Jesus, tue es hier und jetzt,
denn du kannst diesen Schritt nicht ewig verschieben. Wie alle
Erweckungsideologien fordert die evangelikale Religiosität nicht nur
Entscheidung und perpetuiertes Bekenntnis, sie verschließt zugleich die Rückzugs-
und Zwischenräume, in denen die Reflexion wohnt. Skepsis und Zweifel haben
keine produktive Funktion mehr, sie sind vielmehr wie Anflüge von Krankheit,
die überwunden werden müssen. Die evangelikale Messe richtet sich in der
Predigt nicht mehr an die Erkenntnis, sondern dient der Erzeugung von
Erweckungs-Zuständen.
Die Kaderschmiede von "The Call", in der bereits 12-jährige
aufgenommen werden können, hört auf den Namen "Holy Revolution
School". Dieser Name ist Programm, es geht um nichts weniger als die
Revolutionierung von Religiosität im Sinne von Massenmobilisierung, von
Formierung der 'Truppen Christi', um Suche nach Unmittelbarkeit und realer
Gegenwart des Göttlichen: Sie wird befriedigt im ekstatischen
Kollektiverlebnis. Am Horizont steht die Vision einer veränderten und
christlich-theokratisch erneuerten Gesellschaft.
Das meint Erweckung: Wir haben geschlafen, bis wir in Nürnberg erwacht sind.
Seitdem ist alles anders geworden, und wir sind auf dem Weg der Läuterung. Ein
Funke ist übergesprungen und hat uns entzündet, hat den Zweifel in aus
ausgebrannt.
Und was sagen die Eltern der Erweckten? Über die evangelikale Betätigung
seiner minderjährigen Tochter, die Mitleid mit Moslems und Schwulen empfindet,
weil die sich auf dem falschen Weg befinden, zeigt sich der protestantische
Vater keineswegs irritiert. Wenigstens keine Partys mit Drogen und Sex. Man
denkt unwillkürlich an die sympathisierenden Eltern von jenen Lonsdaleträgern,
die tagsüber geseift, gescheitelt und geschnürt brav auf Mamas Couch sitzen
und nachts in ihrem Viertel für Ordnung sorgen.
Man muss die Parallelen gar nicht auf so plumpe Weise überstrapazieren, natürlich
sind die Evangelikalen nicht die Nazis. Ihre Gewalttätigkeit liegt nicht im
Physischen, sie haben sie vielmehr in ihr Weltbild verlegt. Bei ihnen geht es um
die Alleingültigkeit einer Moral wahrhaft göttlichen Ursprungs, die mit
letzter Konsequenz gelebt und verfochten werden will. Foucault hat gezeigt, wie
die Wissenschaft einst den Wahnsinn pathologisiert hat und wie sich eine im
Diskurssystem angelegte Deutungsgewalt letztlich in gesellschaftlichen
Institutionen der Disziplinierung auch physisch niederschlagen musste. Das
System der Erweckungsreligionen funktioniert so anders nicht: Die
Eindimensionalität ihres apokalyptischen Dualismus sieht im Anderen eine
Entartung, die mit dem Reich des Bösen kommuniziert. Als Therapie werden zwar
keine Elektroschocks verordnet, aber Mitleid und Gebet, die hier angebracht
erscheinen und im Gewande christlicher Nächstenliebe auftreten, entfalten ihre
eigene subtile Ökonomie der Gewalt und der Intoleranz.
Wer in einschlägigen charismatischen Foren liest, ist mitunter entsetzt über
die grassierende Einfältigkeit, über die Vorstellungen von ewiger Verdammnis,
über den Wunderglauben, über die religiösen Schematismen und nicht zuletzt über
die mangelnde Medienkompetenz der Wiedergeborenen. Es wird schnell klar, dass
die neue Begeisterung für strenge Moralität weder begrüßenswert noch
verwunderlich ist, dass sie vielmehr im Mainstream jugendlicher
Protestbewegungen liegt, ausgestattet mit den üblichen Untiefen und dem Hang
zur Vereinfachung, der Lust an Radikalität, Identifikation und dem Willen zu
einer Absetzbewegung von einer Gesellschaft, die oft als von Indifferenz und
Beliebigkeit geprägt beschrieben wird. "Bock auf Jesus" ist ein auf
den Kopf gestellter Marilyn Manson.
Wahrscheinlich ist es viel zu früh, hier von einer neuen Generation oder einer
Bewegung zu sprechen. Es sind Tendenzen, die aber durchaus ihren Ort im System
einer Geopolitik der Religionen einnehmen. Muslimischer und christlicher
Fundamentalismus sind kommunizierende Röhren, verbunden durch ein System
theokratischer Überzeugungen. Sie sind das Reservoir der Entschlossenen, die
genau zu wissen meinen, was die einzige Wahrheit ist und welcher Weg zu ihr führt.
Gegen den Zweifel sind sie ebenso immun wie gegen die Komplexität und die
Vielfalt der möglichen Perspektiven beim Blick in die Welt.
Martin
20060113
Ein neuer
Dokumentarfilm von Heidi Ewing und Rachel Grady ("Jesus
Camp") bewegt sich auf den Spuren evangelikaler Organisationen in den
USA, die in ihren äußerst erfolgreichen Rekrutierungsbemühungen nicht nur
durch christlich-fundamentalistische Indoktrination, sondern auch durch
zunehmende Militanz und die Vorbereitung auf kommende bewaffnete Religionskriege
auffallen.
Erstaunlich sei an den neuen charismatischen Jugendbewegungen vor allem ihre
"subkulturelle Variationsbreite", so Marcus Hammerschmitt in einem
Artikel auf Telepolis,
d.h. die Existenz einer Art "Spiegelwelt", in der jede jugendliche
Subkultur in christlich-charismatischer Variante noch einmal wiederkehrt. Skater
und Punks, die sich zu Jesus bekennen. Hammerschmitt spricht in diesem
Zusammenhang von einer "popkulturellen Dschihadisierung des
Christentums" und warnt, dass fundamentalchristliche Ferienlager und
professionell aufgezogene Massenevents auch hier zu Lande keine Seltenheit mehr
seien.
Martin 20061003 >> Diskussion