„Die Wohlgesinnten“ vom französisch-amerikanischen Schriftsteller
Jonathan Littell breitet auf 1400 Seiten ein infernalisches Panorama des
nationalsozialistischen Völkermordes aus. Bisher hat es kein Buch gegeben,
das einen Täter zum Protagonisten und perspektivischen Mittelpunkt eines
Textes über den Holocaust gemacht hat. So war es jedenfalls beim Erscheinen
des Buches 2006 (deutsch 2008) in den Ankündigungen zu lesen. Ob das stimmt
oder nicht: Der mit dem Prix Goncourt geehrte Autor hat mit den
„Wohlgesinnten“ ein literarisches Werk über den Holocaust geschaffen, das
seinesgleichen sucht.
Geschildert wird die Karriere des fiktiven Protagonisten Dr. jur. Maximilian
Aue – Jurist, Homosexueller, Mitglied des SD der SS, zuletzt im Rang eines
Obersturmbannführers – aus dessen eigener Perspektive, in Form einer Art
autobiographischer Erzählung, die in großen Textblöcken im historischen
Geschehen aufgeht, aber immer wieder durch direkte Ansprache des Lesers an die
Erzählgegenwart zurückgebunden wird. Littell schickt seinen Erzähler mitten
hinein in die Schauplätze von Krieg und Völkermord. Als Mitglied der
Einsatzgruppe C der Sicherheitspolizei und des SD unter Otto Rasch ist er Teil
der Tötungsmaschinerie, der in der Ukraine 1941/42 Zehntausende zum Opfer
fielen. Strafversetzt in den Kessel von Stalingrad wohnt Aue dem Untergang der
6. Armee bei. Die nüchternen Schilderungen der Bedingungen von Stalingrad, wo
eine zerlumpte und verhungerte Armee größtenteils erfroren und von
Ungeziefer aufgefressen worden ist, gehört zu den stärksten Passagen des
Buches. Aue entkommt schwer verwundet dem Kessel und bewegt sich nach längerer
Rekonvaleszenz auf den Höhepunkt seiner NS-Karriere zu. Im Dienste des
„Reichsführers SS“ Heinrich Himmler inspiziert und analysiert er die Welt
der Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager und operiert dabei im
Spannungsfeld der komplizierten Interessenkämpfe zwischen den Verfechtern der
schnellen physischen Vernichtung und denjenigen, die im Angesicht der
drohenden militärischen Niederlage die Arbeitskraft der Deportierten
auszubeuten gedachten.
Recherchiert man bei perlentaucher.de eine Gesamtschau der Rezensionen, die
Anfang 2008 in den überregionalen Blättern erschienen sind, so fällt der
weitgehend negative Tenor dieser Besprechungen sofort ins Auge. Kritisiert
wurde dabei vor allem der realistische Stil mit seiner Neigung zur
pornografischen Schilderung von Gewaltexzessen und fäkalen Körperfunktionen,
der Mangel an einer spezifisch literarischen Aufarbeitung sowie die mangelnde
Plausibilität des Charakters des Protagonisten Max Aue. Dessen
Handlungsmotive und Antriebsmomente blieben trotz der ausufernden Breite des
Textes im Grunde im Dunkeln.
Das sind gewichtige Einwände gegen die Qualität des Buches, die ich größtenteils
für einschlägig halte. Was nervt sind weniger die sexuellen Obsessionen des
Protagonisten selbst – seien sie nun hetero-, homosexuell oder inzestuös
– als vielmehr die permanente Suggestion, dass diese Dinge mit der Täterschaft
Aues zu tun haben könnten. Komplizierter verhält es sich mit der Plausibilität
der Charakterzeichnung. Sicherlich wird enttäuscht, wer darauf hofft, dass
hier ein Tätercharakter ausgeleuchtet und in seinem Funktionieren begreifbar
gemacht wird. Wo die Motivation nicht reiner Karrierismus ist, bleibt sie
widersprüchlich. Aue – selbst ein Intellektueller mit sensibler
musisch-literarischer Erziehung – bezweifelt die völkische Rassentheorie
und belächelt die fanatischen Antisemiten mit ihren wahnhaften und kruden
bakteriologischen Metaphern. Dennoch besetzt Aue seine Funktionsstellen im
Vernichtungsapparat nicht nur mit willenlosem Gehorsam, sondern auch mit dem
Ehrgeiz, die ihm übertragenen Aufgaben bestmöglich zu erfüllen. Man mag das
bezogen auf den Einzelcharakter trivial finden. Im größeren Kontext fügen
sich die Widersprüche allerdings in ein Bild, das den Holocaust nicht mehr
als monolithischen Komplex auffasst, sondern als selbst extrem widersprüchliches
Ineinander der Instanzen, Kompetenzen und Interessen mit – allerdings stets
– mörderischen Konsequenzen.
Nun ist die geschichtswissenschaftliche NS-Forschung seit Jahren mit nichts
anderem beschäftigt, als eben jenes 12-jährige Gesamtgeschehen in seinen Verästelungen
und Zerfaltungen transparenter zu machen. Und „Die Wohlgesinnten“ ist bis
zum Rand gesättigt mit diesem historischen Wissen und diesen
historiographischen Diskursen. Es dürfte kaum Veröffentlichungen der
NS-Forschung geben, die Littell nicht bekannt sind. Der präzise recherchierte
Detailreichtum des Buches ist erschlagend. Das bezieht sich nicht nur auf das
äußere Geschehen, sondern auch explizit auf Forschungsansätze, Erklärungsmodelle
und biographische Skizzen. Größerer Raum wird beispielsweise Otto Ohlendorf,
SS-Gruppenführer und Befehlshaber der Einsatzgruppe D, oder auch Adolf
Eichmann gewidmet. Überaus präsent ist beispielsweise die Täter-Mentalitätsforschung
in der Spur von Christopher Browning: Das Selbstmitleid derjenigen, die tagtäglich
Massenerschießungen vornehmen und über Leichenberge gehen. Wie
überaus schwer ist doch die Aufgabe, die wir zu erfüllen haben. Präsent
ist auch diese von Michael Wildt beschriebene, aufstrebende, karrierebewusste,
Sachlichkeit mit Ideologie verbindende, extrem junge Generation, aus der das
Reichssicherheitshauptamt sein Führungscorps rekrutiert hat. Die Liste ließe
sich endlos weiter fortsetzen, vom Wirken der Höheren SS- und Polizeiführer
(HSSPF), über das beinahe undurchdringliche organisatorische Gestrüpp des
NS-Staates bis hin zu den ökonomischen Verwertungsinteressen des
SS-Wirtschaftsimperiums der späteren Kriegsjahre. Littell bietet mit den
„Wohlgesinnten“ eine Art ausladende und penibel ausgearbeitete
Geschichtsforschungs-Prosa.
Diese literarische Verwertung funktioniert als Text und ist interessant. Das
Problem dabei ist nur, dass „Die Wohlgesinnten“ kaum über das
hinausreicht, was die Wissenschaft bereits als Status Quo des Wissens angehäuft
hat. Um ein Eigenrecht als Literatur zu behaupten, müsste der Text einen
Mehrwert produzieren, wo er lediglich wissenschaftliche Diskurse, Modelle und
Perspektiven sowie bekannte Rollenprosa erzählerisch anordnet und gruppiert
– so könnte man mit Fug und Recht fordern. Und dennoch führt der Text den
irrsinnig-monströsen Plan des Nationalsozialismus, alle Juden im deutschen
Zugriffsgebiet zu töten, auf eine Weise vor Augen, die zumindest in
herausragenden Passagen in ihrer Suggestivkraft über das Beschreibungsarsenal
wissenschaftlicher Texte hinausreicht. Ein Beispiel dafür sind die Posener
Reden von Heinrich Himmler, jene berühmt-berüchtigten Vorträge, in denen er
die Ermordung der Juden in ungewöhnlicher Offenheit und Direktheit ausspricht
und über die Verbrechen als historische Notwendigkeit räsonniert. Hier
gelingt es Littell durchaus, die nervöse Atmosphäre zu verdichten, in der im
Oktober 1943 diese Reden gehalten worden sind: Die bewusste Herstellung von
Komplizen- und Mitwisserschaft sollte den anwesenden Gauleitern und SS-Führern
zu verstehen geben, dass alle Brücken zurück abgerissen sind und dass eine
Niederlage gleichbedeutend sein musste mit dem Ende jedes Einzelnen der
Anwesenden, deren Signatur fortan unter dem Völkermordverbrechen zu finden
sein würde.
Martin
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