Hallo T-Hemd, 
       
      da muss ich schon wieder die Ausnahme machen und Dir zustimmen.  
       
      Ein Lebensjahr lang war ich Internatsschüler. Noch viele Jahre soll man
      dort von mir gesprochen haben. Internate sind allen Beschönigungen zum
      Trotze ereignisarme Veranstaltungen und deshalb halten sich Geschichten
      länger. Meine Geschichten waren eher von solcher Art, dass mich deren
      Vergessen im Hinblick auf meine heutige Vorbildfunktion nicht leidet.
      Ich hatte einen Geschichts- und Englisch-Lehrer, dessen Name ich mal ausnahmsweise nenne, weil ich denke, dass er mittlerweile unterirdisch
      ist: Herr Bastard.  Den Vornamen erinnere ich nicht, obwohl er
      mir mal sehr geläufig war. 
       
      Er war ein wirklich netter und intelligenter Mensch, wie es ja auch für viele Bastarde eher typischer ist als für hochgezüchtete
      Rassehunde - nur als Beispiel. Warum das sein Familienname war, mochten
      wir ihn aus Anstand nicht fragen, obwohl er politisch häufiger dazu
      Veranlassung gab.  
      Herr Bastard war trotz Monokel und englischen Manieren, auf die er sehr viel hielt, ausgesprochen tolerant, wenn
      es um klar definierte Schwächen seiner Zöglinge ging. Solche Schwächen
      durften sein: Frauen und Alkohol. Dafür hatte er maximales Verständnis. Bei mir ging es um Frauen. So konnte ich mich, wenn ich allzu müde war, was bei mir wegen nächtlicher Exkursionen oft vorkam, hinter die letzte Reihe in einen Mantel gepackt auf den Boden legen und unbehelligt
      schlafen von seinem Aufsichttreiben nachholen, was mir die Nacht nicht
      schenkte. - An dieser Stelle dürfte Londo endlich eine Erklärung für gewisse Fremdsprachen-Defizite haben, die er bei mir
      so oft beklagt. -  
       
      Schuld an meiner morgendlichen Lernschwäche waren aus meiner Perspektive
      eindeutig die Frauen, denen man endlos nachstellen konnte, aber nicht zu Potte kam. Die Nacht rum. Tausendmal berührt. Und nix passiert.
      Geschweige denn geschlafen. Es war ohne Zweifel die schrecklichste Zeit
      meines Lebens, was also andeutet, wie gut es mir bis in die heutigen Tage
      geht, in denen sich die Lebenssäfte allmählich zurückziehen. Aber
      damals sah ich das nicht so und wäre in tiefe Depression verfallen, wenn
      sch nicht stets im  letzten Augenblick Trost in Kompromissen gefunden
      hätte oder der  Zuspruch von Kameraden, wofür sie immer gut waren. 
        
      Aber ab und zu war ich auch wach im Unterricht, weil Herr Bastard so spannend und konträr zu meinem Elternhaus von Nazi-Zeit und Krieg berichtete. Er war übrigens Adjutant von Rommel. Vielleicht kennt
      ja sogar einer von unseren "Experten" hier meinen alten Lehrer. - 
      Mit Herrn Bastard verstand ich mich glänzend. Wir waren fast nie einer
      Meinung, aber es war wie so oft: entweder hatten die Lehrer an mir
      an einen Narren gefressen oder ihr einziges Anliegen wurde es, mich von
      der Schule zu werfen.  Das geschah zweimal, was für eine gymnasiale
      Phase nicht wenig ist.  Man tat sich also nicht leicht. Weder die
      Lehrer noch ich.  Aber mein damaliges Motto "Neue Schule, neues
      Glück" bezog sich nicht nur auf die Mitschülerinnen, sondern auch
      auf die Erreichung des Abiturs, was durch meine Funktion als
      Schülersprecher bedingten Unterrichtsausfallzeiten zu einer Art
      "Achtem Weltwunder" genügt hätte, wenn die Welt mit den
      altbekannten Weltwundern nicht schon gesättigt gewesen wäre. 
      Schluss mit den Abschweifungen!   
      Herr Bastard jedenfalls, er war der festen Überzeugung, dass es
      Auschwitz nie gegeben habe. Jedenfalls "nicht so", sondern
      "ganz anders".   
      Nun, er war nie dort und das ging damals auch noch nicht so gut, aber es
      widerstrebten ihm die Vorstellung und die  Logik, dass man aus
      rassistischen Gründen so etwas getan haben könne.  
      Herr Bastard war nämlich kein Rassist, wie er meinte, obwohl im
      Englisch-Unterricht seine Textanalyse von "The Gentlemen's
      Ideal" einen Umgang mit Schwarzen eines kolonialisierten Afrikas
      empfahl, der zwar sehr an die Dressur charakterlich komplizierten 
      Gestüts erinnerte, aber nicht an den Umgang mit Menschen. 
      Aber "Die Juden mit ihrer Großen Geschichte auch in
      Deutschland" - das wollte ihm nicht in den Sinn, was mit denen
      geschehen ist.  
      Was war dann aber mit den Judengesetzen, mit dem Gelben Stern, mit der
      Reichspogromnacht?   
      Alles war ihm vollständig anders:  Die Judengesetze waren
      Ausdruck eines transatlantischen Konflikts, der von den Nazis gegen die
      Juden geltend gemacht wurde, wie umgekehrt in den USA die
      Deutschstämmigen in jener Zeit diskriminiert worden seien, also ein
      Wechselspiel zulasten von Minderheiten, wie es das in jedem Lande
      gäbe.  
      Hm, das konnte sein. Ich wusste zu wenig über dieses
      "Wechselspiel", was die Deutschstämmigen in den USA betraf,
      aber das dürfte ihm doch niemals als Rechtfertigung reichen.  Und
      das tat es auch nicht. Da verurteilte er Nazis, aber "die
      Amerikaner" gleich mit - und niemand wusste genug, um ihm da zu
      widersprechen.  
      Der Gelbe Stern galt ihm als Übertreibung unverzeihlicher Art, was
      endlich meinem jugendlichen Hang nach kompromisslosem Urteil genügte,
      aber die Pogromnacht war ihm der "tobende Mopp", den es auch
      überall gebe.  
       
      Ja, den gibt es überall. -  Leider hatte mein Vater ausgerechnet
      noch nicht vom 9.November erzählt, den er auch nur so erlebte, dass die
      SS ihm den Weg durch die mit Verzweiflungsschreien und NS-Kommandos
      schreiende Münzstraße verwehrte. Dass es eben kein "Volkszorn gegen
      die Juden" war,  sondern durchorganisierter Staatsterror, der
      die Wohnungen und Geschäfte aufbrach, die Synagogen nieder brannte und
      die letzten Hoffnungen der Juden nahm - und sie dafür noch mit
      "Schadensersatz bestrafte" - in Milliardenhöhe. Aber was war
      das Geld im Vergleich zu den anderen Taten. 
      Ich war damals, wie angedeutet, in einer - sagen wir - "biologisch
      schwierigen Phase". Anstatt meine Eltern zu fragen, die sich wie
      meine gesamte Verwandtschaft in allem erinnerten, ging ich meinen
      pubertären Hobbys nach und war zufrieden, mit knappen prinzipiellen
      Einwänden brilliert zu haben. Teilweise hatte ich mir geschickt
      "ausgeholfen" mit Dingen, die meinem Geschichtsbild die Löcher
      stopften, um Herrn Bastard zu widersprechen, obwohl solche
      "Notlügen" in meiner Familie absolut unzulässig waren, weil
      man das nicht nötig haben darf - und es war ja auch nicht
      "nötig", sondern nur Folge von tatsächlicher Faulheit und
      Dummheit.  Ich kann mir meinen Auftritt damals noch heute kaum
      verzeihen, so "effektiv" er auch in dem Moment war. - Junge
      Leute sind so blöde, dass sie nicht abwarten können, sich nicht
      erarbeiten wollen, was sie brauchen, wenn sie Schritt halten wollen mit
      Erwachsenen, die doch zwangsläufig mehr Faktenwissen und Erfahrung haben
      als ein Minderjähriger im permanenten Frühling der Gefühle. 
      Herr Bastard revanchierte sich auf die für ihn typisch großzügige
      Art. In die nächste Stunde brachte er mir einen riesigen Stapel der
      "Nationalzeitung" mit. Wenn ich ihn ausgelesen hätte, solle ich
      entscheiden, ob ich ihn weiterreiche.   
       Damals lauteten die Titel übrigens noch sehr häufig "Die Auschwitz-Lüge" und ähnlich. Nach einigen Exemplaren hatte ich meine
      "Recherche" jedoch gründlichst über, weil ohnehin nur ein einziges Thema mit den immer gleichen Unterthemen und falschen Schlussfolgerungen bedient waren. 
       
      Das Hauptthema:  
       
      "Armes Deutschland - nun wehre Dich doch endlich!" - So stand es da zwar nicht, aber so kam es bei mir an. 
       
      Die Unterthemen, die sich immer auf das genannte Hauptthema reduzierten: 
        
      a) die Siegermächte waren und sind böse,"" 
      b) die Juden übertreiben bzw. lügen,"" 
      c) die Ausländer müssen raus."" 
        
      Der Zeitungshaufen mehrte nicht nur die Unordnung in meinem Kellerzimmer,
      sondern war mit den Titel meinen Eltern ein Graus. Aber "Recherche
      musste sein", wie ich meinte.  Ich stellte meinen Eltern dann
      auch "manch unliebsame Frage", wie die
      "Nationalzeitung" sich damals schon bemitleidete und genau
      kalkulierte, dass mit den irren Behauptungen und "Berechnungen"
      jeder Normalleser überfordert war, aber meine Mutter war Schauspielerin
      in Kattowitz - UND es war verboten, über Auschwitz zu sprechen. Das
      Gebiet war verboten, das Gespräch war verboten. Man hatte Angst. Und es
      gab KEINE Scherze von der Art, über die heute Nazi-Kids lachen mögen. 
      Und von diesem Schweigen, von dieser Angst, von diesen Verboten stand
      NICHTS in der "Nationalzeitung". Aber allein damit wäre jede
      seriöse Behandlung des Holocaust-Themas zu beginnen: Mit den
      "unliebsamen Fragen", die im Nazi-Terror millionenfach erstickt
      wurden wie Juden im Gas.  Nur mit folgendem Unterschied:  die
      Nichtjuden konnten sich durch Unterwerfung retten, aber nicht einmal das
      ließ man den Juden. 
       
      "So richtig" interessierte mich das alles für viele
      Diskussionen zu spät. Wozu sollte ich das alles wissen? Ich war für den
      Frieden, ich war gegen Hunger in der Welt, für Gerechtigkeit und gegen
      die Nazis sowieso.  Das genügte mir. Und reicht dennoch nicht. 
       
      Interviewt Eure Eltern und Großeltern! Nehmt es auf Band. Ihr könnt es
      nicht nachholen, wenn sie nicht mehr sind. 
      Grüße von  Sven  |