Antisemitismus Ursachen und "Antigermanismus"?

Gast schrieb an Martin: "martin, jetzt wär es interessant zu erurieren, welche schuld das jüdische volk am antisemitismus so hat, denn von nix kommt nix, um zu streiten gehören mind. zwei, denn die juden haben selbst einen ziemlichen antigermanismus, der dem antisemtismus um nix nachsteht..."


Antwort von Sven

Hallo Gast,

Antigermanismus? was verstehst du darunter? und was sollte das anderes sein als Feindlichkeit gegen Germanen, die es m.E. heute so wenig gibt wie die "Römer" oder "antiken Griechen". 

deshalb begegnete mir "Antigermanismus" leibhaftig so null wie mir "Antirömerismus" leibhaftig begegnet sein könnte. nirgends weltweit. allenfalls in einigen texten des Latein-Unterrichts, wenn sich römische imperialliteratur abfällig über das rohe wesen und Rückständigkeiten der Germanen ausließen.

was es anstelle von "Antigermanismus" gibt, würde ich als eher als "antideutsch" auffassen mit zumeist sehr deutlichem bezug zur dt. und europ. Geschichte der letzten 150 Jahre, was mir mühelos nachvollziehbar ist: antideutsche Haltungen, die oftmals auch pauschal allen deutschen über die phänomenologisches (=Musik, Sprache, favorisierte Sportarten, Automarken, "typische" Kochrezepte, die typischerweise aber grade nicht "germanisch" sind, sondern besonders "regional", ...) hinaus auch innere Gemeinsamkeiten zu vermuten. zB fleißige, Obrigkeitshörigkeit, Pünktlichkeit, Gründlichkeit, ... alles Prädikate, von denen mir jedes teils gut, teils schlecht scheint, obendrein Prädikate, die ich nicht ansatzweise historisch als "germanische Eigenschaften" nachvollziehen kann oder bei den heutigen deutschen als gemeinsame Eigenschaft ansehen würde. nicht eine einzige davon.

solche Pauschalisierungen sind so absurd, dass sie zumindest mir mühelos und zwar überall widerleglich sind, weshalb ich in keinem land der Welt länger als 5 Minuten mit antideutschen Ressentiments leben muss. 

wenn ich mit meinem eigenen Mini-Aufwand vergleiche, wie viel aufwand zB Türken oder Juden treiben müssen, um ihr individuelles Dasein gegen nationalistische und rassistische vorurteile zu rechtfertigen, dann sehe ich mich in einem geradezu peinlichen Vorteil, der mir leider darauf beruht, dass viele deutsche überhaupt nicht fähig sind, sich a) mit der unbestreitbaren Tatsache massenweisen Versagens vor und während des Nationalsozialismus abzufinden und sich b) auch viele Antifaschisten schwer tun, eine gegen die schuldkomplexe emanzipierende Politik zu betreiben.

zu a): damit hätten andere Völker nicht minder Probleme, wenn sie in derartiger Verwegenheit versucht hätten, "Herrenrasse" über andere Menschen/Völker zu sein - und sich aus diesem Wahn samt Giga-Verbrechen nicht selbst zu befreien verstanden,

zu b): viele Antifas tun sich schwer mit vernünftigem (+sachlichem) Antifaschismus, weil sie ihn für andere politische ziele zu instrumentalisieren versuchen: Diffamierung der Opposition bis hin zur extremistischen Negation der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in ihrer marktwirtschaftlichen Ausrichtung.

kurzum: es gibt seit der Römerzeit keinen "Antigermanismus" mehr und antideutsche vorurteile haben ihren grund in deutscher Geschichte, die selbst unwiderleglich ist, wohl aber ist widerleglich, dass diese geschichtlichen Sünden in der natur des deutschen ihre Ursache hätten.

Mun zu Deiner These, dass der Antisemitismus Ursachen in den Juden haben müsse:

"von nichts kommt nichts":-) das ist wahr. Aber ebenso wahr ist, dass wenn du mit einem Auto gegen einen Baum fährst, es an Deinen Fahrkünsten liegen kann oder wenn Du ein Mädchen anfällst, dass der Defekt zunächst mal bei dir zu suchen ist und nicht beim Mädchen. 

Die Notwendigkeit von Ursachen sollte dich also nicht zu Irrtümern verleiten, wie sie für die Äquivalenztheorie typisch sind (=jede Bedingung, die nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass die Wirkung entfällt), sondern solltest schon auf die Relevanz schauen (=welche Bedingung unter unzähligen setzte das Verhängnis in gang, war schuldhaftes verhalten, weil anderes verhalten vernünftig gewesen wäre).

schauen wir uns die Geschichte der israelischen Stämme an: sie hatten in ihrer vieltausendjährigen Geschichte so wenig glück mit Niederlassungen wie andere Stämme, von denen die meisten restlos verschwanden bzw. in anderen Stämmen aufgingen. einzig die jüdische Religion sorgte dafür, dass eine jüdische Identität all diese Jahrtausende überdauerte, während andere Religionen dem Wandel der Zeit, exakter: dem Wandel der politischen Macht mit eigenem Wandel folgten, indem die Herrscher zu Göttern wurden und ebenso vergingen.

Auch damit ist das Judentum nicht einmalig, so gibt es Vergleichbares im fernen China, in Japan und im näheren Indien (Hinduismus 2000 v.Chr.)

Die Geschichte war nicht nur Krieg und Zerstörung, vielmehr konnte stets nur zerstört werden (""), was zuvor aufgebaut war und oft Jahrhunderte Bestand hatte. Wer in den Nahen Osten Studienreisen unternimmt, kann dort die Zeugnisse auch von israelischen Staaten finden, deren Pracht und politische Stabilität nachvollziehbar wird. Dass die ägyptischen Pyramiden von Gizeh unzerstörter überdauerten, ist schließlich nicht nur der architektonischen Präzision zu danken, denn die wurde durch fragilere Architektur an vielen Weltorten weit übertroffen, sondern der simplen Grundstruktur, die Pyramiden eigen sind, während die politische Stabilität Ägyptens nicht minder fragil war als diejenige der israelischen Völker. 

Alles baute sich auf, dauerte, zerbrach in Kriegen sich gegenseitig der Reichtümer beraubender Staaten; Völker, die sich verbündeten, verschmolzen oder aber aus Gebieten verjagten und oftmals auch ausrotteten. Keine "schöne Geschichte", aber stets mit sicherlich viel mehr "schöner Geschichte" zwischen den erheblich befristeteren Verheerungen, wie sie durch Kriege so rasch zerstören, was zuvor in mühevollster Arbeit errichtet war, zumal es an heutigen Technologien fehlte.

Die israelischen Gebiete gerieten immer wieder unter Fremdherrschaft mit der Folge, dass die Israeliten entweder in die neue Herrschaft adaptierten, worin sie dann verschwanden, was immer und überall auf Erden auch anderen Völkern passierte, während andere Teile solcher Völker auswichen, wenn ihnen die neue Herrschaft dazu Chancen beließ. 

Diejenigen, die damals in die Diaspora gingen, sich also verstreuten, waren also die "Nichtadaptierten", sich ihren Glauben bewahrende Menschen. In den Zielgebieten ihrer Flucht war indes keine Menschenleere und nicht immer Bedarf an sich niederlassenden Fremden. Fremde mussten brauchbare Dinge mitbringen, um gebraucht zu werden, durften insbesondere nicht konkurrieren: Niederlassungen vieler Fremder am selben Ort waren unzulässig, Standesrecht der "Eingeborenen" sicherte gegen die Erwerbskonkurrenz, so dass die Erwerbstätigkeit und Existenzgrundlage bzw. Existenzweise der Fremden auf zweierlei angewiesen war: 1. den Handel mit weitgereisten Waren und Fähigkeiten, die 2. dadurch begünstigt waren, dass durch das fehlende Recht zu größerer Ansiedlung entlang der wichtiger werdenden Handelsrouten soziale Bindungen zwischen den jüdischen Familien entstanden, die diesen wiederum Wettbewerbsvorteile gegenüber der Mehrheitsbevölkerung brachten, die im Landbesitz und Regionalität ihre Existenzweise hatten.

Die "Fremden" blieben fremd, hatten darin auch nicht nur Nachteil, sondern waren durch die Nichtintegration "globaler" und vorzugsweise dort, wo sie am ehesten gebraucht wurden:

Wer Handel treibt - und oft durften die Juden nichts anderes - wer also Handel treibt, der würde sich selbst darin behindern, wenn er es auf Tauschbasis veranstalten würde >> sicherlich wäre man auch mal mit einem Huhn zufrieden, das für ein paar Gramm attraktiven Gewürzes zu haben war, aber höhere Preise lassen sich erzielen, wenn man auf die direkte Gegenleistung verzichtet und sich Geld geben lässt oder Schulden aufschreibt samt Verzinsung = eben keine jüdische Eigenart oder gar "jüdische Erfindung", sondern die absolut logischste Logik:-) allen Handels, der flotter sein will als eine Tauschbörse. 

Kredite (=Kredit=Vertrauen) gibt nur, wer hoffen darf, dass er 1. irgendwann das Geld daraus erhält und 2. gibt niemand etwas auf die Zukunft mit all den Wagnissen, wenn nicht auch das Wagnis bezahlt wird, also Zins und Zinseszins, je länger es braucht. 

Das Handelsgeschäft wurde also vielen zum Handelskapital und nach und nach bildeten sich aus Handelskapital "reines Kapital" heraus >> das Geld selbst wurde zur Ware (Achtung: das war es schon immer) und man verleiht es bei weitem nicht nur jenen, die es zurückzahlen können, sondern setzt es auch dazu ein, Schuldner in dauerhafte Abhängigkeit zu bringen, denn je dringender jemand Geld braucht, desto höhere Zinsen wird er versprechen - und dann irgendwann das Versprechen brechen, was entweder noch zusätzliche Abhängigkeit bringt (Umschuldung) oder aber der Schuldner bricht nicht nur das Versprechen, sondern auch das Recht und drangsaliert seinem Gläubiger, dem es dann schlecht ergeht, wenn seine Mittel nicht reichen, um den Schuldner im Bann zu halten. 

All das hat es vieltausendfach gegeben. Und betroffen davon waren nicht nur die Ärmsten der Armen, sondern auch Herrscherhäuser, die mal mit ihren Bündnissen im Finanzhandel gegen das eigene Volk oder gegen andere Herrscherhäuser gemeinsame Sache machten, mal auch umgekehrt mit dem Volk und mit anderen Herrscherhäusern gegen den Finanzhandel zu Verbrechern wurden und Pogrome gegen "die Juden" in Szene brachten. 
Und dann traf es nur in den seltensten Fällen die Bankiers, die allenfalls um ihre Forderungen gebracht wurden, aber ausweichen konnten, während es diejenigen Juden traf, die in friedlicheren Zeiten zu adaptieren begonnen hatten, in Handwerksnischen eingerückt waren, in die Wissenschaft usw. All diese wurden dann immer die "leichte Beute" für die niederen Stände, die von der Herrschaft gebraucht wurde, um sich der Schulden auf Ebene des Staates zu entledigen. - Immer nur temporär, denn all diese "Nationalen":-) waren binnen kürzester Zeit wieder willens, Kredite zu nehmen, um "über ihre Verhältnisse leben" und Kriege führen zu können. 
All das sind keine ausschließlich "europäischen Erscheinungen" oder ausschließlich "antisemitischen Erscheinungen", sondern finden sich ebenso z.B. in Fernost, weshalb es beispielsweise immer wieder in Indonesien Pogrome gegen Chinesen gab (erst vor wenigen Jahren erneut) oder beispielsweise auch, als es um die Finanzierung des amerikanischen Bürgerkriegs ging, als Abraham Lincoln Geld brauchte, nicht bekam, dann selbst das Geld drucken ließ und Glück hatte, dass sein Krieg gewonnen wurde, denn nichts hätten seine Dollars an Wert gehabt, wenn nicht den Verbliebenen die Nähe des Todes per Blut und Massenabschlachten so nahe gebracht worden wären - und "sinnvoll", weil mit dem Sieg über die Südstaatler. Solange "Erfolge" sind, dürfen sie kosten.

Kurzum und Anrisse: 

1. "Die Juden" mussten und durften nur in Bereichen tätig sein, die einigen wenigen von ihnen zwar auch zum Vorteil waren, aber immer allen Juden zum Nachteil, wenn die politischen Machthaber der Mehrheitsgesellschaft sich selbst zu teuer geworden waren und dann ihre Gläubiger dafür verantwortlich machten. 

2. "Die Juden" waren immer nur solche, die als solche erkennbar blieben, also vor allem, wer sich die Religion bewahrte, während viele Juden in den "besseren Zeiten" adaptierten, konvertierten und in der Mehrheitsbevölkerung "verschwanden". Aber die zwischenzeitlichen "Christianisierungen" bezweckten und bewirkten in der Regel das Gegenteil (wenngleich einzelne Juden dem nachgaben und Christen werden "durften"), denn die Christenkirchen waren exakt so zyklisch wie die weltliche Herrschaft mit der Privilegieneinräumung befasst wie mit den Verfolgungen, denn die christlichen Kirchen waren der weltlichen Herrschaft nahezu identisch.

3. Wem gleiches Recht in einer Gesellschaft versagt bleibt und wer im Wechsel von Vorteil und Nachteil der Willkür ausgesetzt bleibt, der ist zurecht misstrauisch und neigt dazu, sich Halt in fest gefügten Strukturen zu suchen, die abgeschottet gehütete Heimat ersetzen, werden und sind. Letztlich geht solch Konzept nicht auf, sondern steigert umgekehrt das Misstrauen gegen solch geschützten Bereich, der sich der Gerüchte nicht erwehren kann, weil sich oft auch gegen solche sperrt, die nüchtern die Lage beurteilen. Und es geht sogar soweit, dass auch innen Misstrauen gegen solche herrscht, die den Raum zugänglich machen möchten. So bilden sich Sektenstrukturen in Organisation und Denken aus, die wiederum angreifbar machen. Nun ist das Judentum gewiss keine Sekte im Sinne gängiger Sektendefinitionen, wohl aber nicht frei von solchen Charakteristika, wie sie jede Glaubens- bzw. Bekenntnisgemeinschaft ausbildet, die Diskriminierungen ausgesetzt ist. 

Aus solchen Wirkungsmechanismen eine "Mitschuld der Juden" zu konstruieren, ist das Hobby von Antisemiten, verkennt a) die Allgemeinheit solcher Mechanismen, die Diskriminierung für jede diskriminierte Teilmenge hat (Christen in China, Obdachlose in Deutschland) und b) ist demgegenüber jede Verallgemeinerung unzulässig, wenn sie die Individualität des Menschen kollektiven Anschauungen unterbuttert, wie es insbesondere für nationalistische und rassistische Menschenbilder typisch ist, die obendrein nie ohne Feindbildcharakter sind, also Menschen und politische Prozesse auf Eigenschaften reduzieren, die Unterdrückung rechtfertigen und zu Exzessen wie dem Holocaust rassistisch logische "Endlösung" suchen. 

Nun mag man sich wundern, wenn ich versuchte 4000, 5000 Jahre Menschheitsgeschichte zu bemühen, um die Ursprünge des Antisemitismus auszuleuchten und tatsächlich war ich nur deshalb zu solch Ausflug bereit, weil jemand mit "Antigermanismus" den Antisemitismus zu entschulden versuchte, aber stattdessen sollte für jeden halbwegs vernünftigen Menschen die "Irrationalität antisemitischer Rationalität" schon im Übermaß aus der jüngsten deutschen Geschichte des Holocaust zur Klarheit genügen - der Holocaust, der einerseits durch nichts in der Geschichte zu rechtfertigen wäre, der andererseits eben nur in niedersten Mensch- und Weltanschauungen Realität werden konnte. 

Ich spreche im Plural und zwar, obwohl jedes historische Geschehen Einmaligkeit hat, aber es hätte auch keinen Zweck, wenn aus der Einmaligkeit geschlossen würde, dass sich Verbrechen nicht "wiederhole". Und das tut es im Kleinen wie beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent, wenn sich dort Stämme auszurotten versuchen - und das tut es auch in Perspektive vieler Weltanschauungen, denen größte Verbreitung eigen ist, sobald sie ihre "Wahrheiten" = Religionen und Ideologien ÜBER den Menschen stellen, denn darin hat der Mord massenhafte Zukunft, wenn sich nicht die Erkenntnis Bahn bricht, dass der lebendige Mensch das höchste politische Ziel verkörpert, in dem sich jedes Ideal zu erweisen hat oder die Himmelsversprechen zur Hölle auf Erden werden lässt.

Antisemitismus ist diejenige unter vielen noch heute anzutreffenden Torheiten, die am eklatantesten unter Beweis stellte, was das Wesen politischer Torheit ist: die Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Menschen.

Grüße von Sven

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