Antisemitismus im Alltag

BeitragVerfasst: Di 26. Apr 2011, 14:51
Dretales hat geschrieben: "Ich frage mich nun warum immer die Juden für alles verantwortlich gemacht werden. Sind sie nur der ideale Sündenbock oder steckt doch etwas Wahrheit oder geschichtliche, religiöse Ereignisse dahinter?"

@Dretales, machtest du Erfahrungen mit dem Antisemitismus? Waren es dann geschichtliche Argumente, religiöse Menschen?

Deine Frage ist berechtigt, zumal es für Vorurteile, Feindschaften Begründungen geben kann. Finden sich solche, so hätte die nächste Frage zu lauten, ob die Begründung hinreichend ist, um Feindschaften zu rechtfertigen oder ob die Feindschaft nicht doch eher bloß aus eigener Dummheit oder Niedertracht ist.
Oberflächlichere Leute allerdings gehen kaum den ersten Schritt (=Begründungssuche) und erkennen die Erforderlichkeit des zweiten Schritts (= Relevanzprüfung und Schuldprüfung) nur in Fällen, in denen ihnen selbst ein Kausalzusammenhang zur Schuld ausgehängt wird.
Und viele Leute bemerken den Antisemitismus nur dann, wenn irgendwo ein jüdischer Friedhof geschändet wurde, also antisemitisches Denken schon in Handlungen übergegangen ist. Die Stufe zwischen dem Denken und Handeln wird häufig übersehen bzw. überhört, denn es geht um dumme Sprüche.

Jemand fragte mich nach dem Preis für eine wirtschaftsthematische Domain. Meine Antwort: "500 € plus Umsatzsteuer"

"Rein interessehalber" wollte er anschließend wissen, zu welchem Preis ich die Domain gekauft habe. Obwohl kein Freund von Floskeln, wie "ehrlich gesagt" oder "rein interessehalber" gefragt, weil das selbstverständliche Voraussetzungen sein sollten, antwortete ich ihm freundlich: "Wir haben die Domain erst seit kurzer Zeit und bislang keine 5 Euro Kosten."

"Hundertfacher Gewinn? Sie sind ja ein richtiger Jude!", meinte er empört, woraufhin ich wissen wollte, mit welcher Domain und welchem "richtigen Juden" er denn gleichartige Erfahrungen gemacht habe?

"War nur ein Spruch", meinte er beschwichtigend und fügte halbschlau hinzu: "Nehmen Sie es als Kompliment für Ihre Geschäftstüchtigkeit!" - Komplimente kommen mir gewöhnlich ohne Empörung daher, weshalb ich ihn wissen ließ, dass es ein antisemitischer Spruch ist, zudem schon nach seiner Erfahrung falsch und in diesem Fall entbehrlich, wenn ihm bloß der Preis zu hoch erscheine und mir am unteren Ende.

Leider erst nach dem Telefonat fiel mir die passende Zusatzfrage ein: "Wenn ich Sie nun als echten Nazi bezeichne, wer von uns beiden wäre der Wahrheit näher bzw. hätte mehr Veranlassung zu solch Art Bemerkung?"

Wer mag schon die Wahrheit, wenn sie nicht schmeichelt? Mir muss er kein "echter Nazi" sein, wie ich ihm wahrscheinlich auch kein "echter Jude" war, aber einer der logischen Schlüsse daraus lautet immerhin: Je weniger ich ihm "Jude" und er mir "Nazi" ist, desto gewöhnlicher sind Antisemitismus und faschistisches Denken in unserer Gesellschaft - trotz der Geschichte aus einerseits Aufklärung und andererseits Nationalsozialismus und Holocaust. Nicht jede Gewöhnung ist gut.

Markus Rabanus20110426          >> Antifa-Forum <<

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